Die Menschenwürde ist unantastbar. Wirklich?

Ende August bekam ich per E-Mail eine Anfrage für die Rezension des Buchs: „Das Versagen der Kleinfamilie. Kapitalismus, Liebe und der Staat“ von der Autorin Mariam Irene Tazi-Preve. Ich war erst einmal aus 2 Gründen misstrauisch: Mein „junger“ Blog hat (noch!) keine so große Reichweite. Des Weiteren muss ich ehrlich gestehen, dass ich vorher noch nie etwas von der Autorin gehört oder gelesen hatte. Internet sei Dank konnte ich schnell herausfinden, dass es die Professorin für Politikwissenschaft und Geschlechterforschung wirklich gibt (ist mir jetzt schon fast peinlich das zu schreiben, aber es war halt so) und ich den Link für die Buchbesprechung in der E-Mail beruhigt anklicken konnte. Natürlich hat mich die Anfrage dann, als ich mein Misstrauen überwunden hatte, gefreut und ich habe angefangen mit Enthusiasmus zu lesen. Nach den ersten 30 Seiten habe ich das Buch dann weggelegt und mich gefragt, ob ich es tatsächlich zu Ende lesen möchte. Nicht weil das dort geschriebene nicht stimmt oder mich in seiner Form nicht anspricht, sondern weil es meine persönliche Weltsicht der Kleinfamilie hinterfragt. Eine Woche lang war dann Sendepause zwischen mir und dem Buch. Aber, Kneifen ging dann auch nicht. Ich bin ein neugieriger Mensch und darüber hinaus davon überzeugt, dass bei mir persönlich und auch auf gesellschaftlicher Ebene, Veränderung nur dann geschehen kann, wenn sich, am besten viele Menschen, mit anderen Sichtweisen beschäftigen als den bereits bekannten.

Es handelt sich bei „Das Versagen der Kleinfamilie. Kapitalismus, Liebe und der Staat“, um ein gesellschaftskritisches Buch, dass viele Aspekte unseres Lebens einbezieht in die Überlegung, wie Gesellschaft friedlich(er) und menschenwürdig(er) gelebt werden kann (bewusst schreibe ich hier nicht, wie Gesellschaft funktioniert). Es ist KEIN Buch, das meint, dass die Kleinfamilie versagt in dem Sinne, dass sie keine gute Arbeit macht. Das könnte man aus dem Titel ableiten, wenn man es nicht gelesen hat.

Im Mai 2017 habe ich die Petition Care-Arbeit ist Arbeit – Fürsorgegehalt jetzt! ins Leben gerufen aus dem Grund, weil mir die Vereinbarkeit von Familie und Beruf immer mehr unmöglich erscheint. Des Weiteren ist mir außerordentlich wichtig, dass Care-Arbeit, also die Erziehung von Kindern und die Pflege von Angehörigen, endlich gesellschaftlich und politisch als Arbeit anerkannt wird.

Im Buch von Frau Tazi-Preve wurden viele meiner Beweggründe die Petition ins Leben zu rufen bestätigt. Zwei Aspekte möchte ich hier aufgreifen:

  1. Die (historische) Trennung von privatem und öffentlichem Raum bzw. von Familie und Staat: Eine Erklärung, warum Care-Arbeit gesellschaftlich und politisch nicht gesehen wird, erhielt ich in dem Buch u. a. auf Seite 77:Seit Beginn der Industrialisierung wird die Arbeitswelt als Bereich der „eigentlichen“ Produktion wahrgenommen. Die „Re-Produktion“ soll ab nun in der Sphäre der Privatheit stattfinden. Neben dem Gebären von Kinder, der Herstellung, Sicherung und Versorgung von Kindern und Jugendlichen, die pflegerische und emotionale Unterstützung aller im Haushalt lebenden Erwachsenen und die Betreuung von alten Menschen, Kranken und Nachbarn. Diese Tätigkeiten erfordern ein hohes Maß an emotionaler und materieller Energie; sie bedeuten sehr viel Arbeit. Seit diese Arbeit von dem, was als politisch und öffentlich bedeutsam gilt, abgespalten wurde, ist sie unsichtbar, obwohl sie den Großteil der gesamten menschlichen Tätigkeiten ausmacht.“ Genau das war mein Gefühl, Erziehungsarbeit und die Pflege von Angehörigen ist UNSICHTBAR. In der Frauenzeitschrift „Für Sie“ (10/2017) erschien ein Interview mit Familienministerin Katarina Barley im September 2017. Hier fordert sie, wie viele andere Politiker auch, dass Horte und Kindergärten bereits früh morgens und bis spät in den Abend hinein geöffnet haben sollen, damit die alleinerziehende Mutter oder der alleinerziehende Vater Vollzeit arbeiten gehen kann. Diese Forderung jedoch wird der Tatsache nicht gerecht, dass Kindererziehung einfach Zeit braucht, dies scheint wirklich UNSICHTBAR zu sein. Wir brauchen Zeit um mit unseren Kindern zu leben und gut für sie zu sorgen. Das heißt konkret, wir brauchen Zeit um mit ihnen zum Arzt zu gehen, wir brauchen Zeit um einkaufen zu gehen, ihre Geburtstage vorzubereiten, ihnen etwas gesundes zum Essen zu kochen, sie schulisch zu fördern, oder einfach nur um mit ihnen unbeschwerte Zeit zu verbringen. Wir brauchen Zeit um mit unseren Kindern und  pflegedürftigen Angehörigen zu leben und nicht den Druck, Vollzeit arbeiten gehen zu müssen, weil wir sonst arm sind. Des Weiteren brauchen Väter und Mütter, sowie pflegende Angehörige Zeit, um Kraft zu schöpfen für ihre Aufgaben in Familie und Beruf. Kindererziehung und die Pflege von Angehörigen muss als unentbehrliche Arbeit und Grundlage der Gesellschaft SICHTBAR gemacht werden.
  2. Vereinbarkeitslüge: Ich arbeite seit dem Jahr 2008 in immerwährenden befristeten Anstellungsverhältnissen mit Langzeitarbeitslosen, mein kürzester Arbeitsvertrag ging 4 Wochen. In einem prekarisierten Arbeitsmarkt (befristete Arbeitsverträge, Leiharbeit, Teilzeitverträge usw.) wird es immer schwerer Beruf und Familie (Kindererziehung und Pflege von Angehörigen) unter einen Hut zu bekommen, Zitat aus dem Buch Seite 94: „Die Lüge besteht darin, dass die Kompatibilität zweier divergierender Systeme propagiert wird, die einander per se ausschließen. Menschen, die ihren Lebensunterhalt durch Erwerbstätigkeit auf dem Arbeitsmarkt sichern müssen und gleichzeitig Betreuungspflichten für Kinder, Partner/innen oder Eltern haben, leiden an der Vielfalt der an sie gerichteten Ansprüche.“ In unserem Grundgesetz steht, dass die Menschenwürde unantastbar ist. Mit der Forderung der Politik nach Vollzeitarbeit von Eltern frage ich mich, ob es wirklich menschenwürdig ist, wenn sich unsere Kinder dem Arbeitsmarkt anpassen müssen und das schon im Krippenalter?

Das Buch war insgesamt sehr interessant zu lesen. Es beleuchtet eingehend welche Einflüsse auf das „Funktionieren der Kleinfamilie“ wirken und beinhaltet noch viel mehr Zusammenhänge als die zwei von mir herausgegriffenen Aspekte im Bezug auf die Petition zum Fürsorgegehalt. Für mich neu war die beschriebene Haltung von matrilinearen Gesellschaften. Sie stellt einen von den Werten her äußerst wichtigen Gegenentwurf dar, zur Profitmaximierung der neoliberalen Wirtschaft in einer patriarchal geprägten Gesellschaft.

 

Mariam Irene Tazi-Preve. Das Versagen der Kleinfamilie. Kapitalismus, Liebe und der Staat. Verlag Barbara Budrich 2017, 228 Seiten für 22,90 €. ISBN 978-3-8474-2010-1.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

6 Gedanken zu “Die Menschenwürde ist unantastbar. Wirklich?

    • Mama streikt schreibt:

      Ich muss erst mal nachlesen, was „rebloggen“ ist :-)…. Für mich ist das alles neu. Ich nehme an, dass ist sowas wie auf Facebook, wenn man einen Beitrag teilt und dann noch selbst was dazu schreibt. Kannst Du gerne machen und vielen Dank fürs liken und rebloggen. Viele Grüße, Claire

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      • maramarin21 schreibt:

        Ja, genau. Ich würde dazu ein paar Sätze schreiben und dann wird Dein Beitrag auf meiner Seite angezeigt. Ich mache es aber auch immer so, dass ich ganz klar kennzeichne, durch den Text, von welchem Autor der Beitrag ist und ich würde auch die Adresse zu Deiner Website angeben. Denn ich denke, die Leser meiner Seite finden Deine Seite bestimmt sehr, sehr interessant. Liebe Grüße!

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  1. maramarin21 schreibt:

    Hat dies auf marasgedanken rebloggt und kommentierte:
    Mit „Mama streikt“
    https://mamastreikt.wordpress.com/
    habe ich heute nicht nur einen für mich sehr interessanten Blog einer mutigen Mutter gefunden, sondern auch noch den Tipp für ein Buch von Mariam Irene Tazi-Preve mit dem Titel „Das Versagen der Kleinfamilie“. Warum die Verfasserin von „Mama streikt“ so mutig ist, könnt Ihr hier lesen: https://mamastreikt.wordpress.com/2017/06/14/als-mamalie-streikte/
    Aber nun erst einmal zur Buchrezension von „Mama streikt“. Vielen Dank für die freundliche Erlaubnis, diese auf meinem Blog rebloggen zu dürfen.

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