Über die Freiheit im Hier und Jetzt und das achte Weltwunder

Ich wurde in letzter Zeit öfters gefragt, wie ich es geschafft habe, immer weiter zu machen und woher meine Kraft kommt für dieses herausfordernde Leben als alleinerziehende Mutter mit all seinen Höhen und Tiefen. Diese Frage ist für mich tatsächlich schwer zu beantworten, denn ich habe kein Rezept, in dem genau steht, wie das geht, weiter machen. Ich würde sagen, mein Leben war ein Prozess und je mehr ich gelernt habe mir zu vertrauen und mich und meine Bedürfnisse wahrzunehmen, desto besser ist es geworden, mein Leben. Dennoch bleibt es ein Leben am Limit.

Hier und Jetzt

Als ich meine Gestalttherapieausbildung begonnen habe vor gut 14 Jahren, habe ich mich das erste Mal bewusst mit dem Hier und Jetzt auseinandergesetzt, denn es stellt einen wesentlichen Wirkfaktor in der Gestalttherapie dar. Fritz Pearls (Psychiater, Psychotherapeut und Mitbegründer der Gestalttherapie) drückte es so aus:

„Wirklichkeit ist nur im Jetzt.“

Für mich bedeutet das heute, in schwierigen Situationen nicht mehr an die Vergangenheit zu denken, mit den vergangenen schwierigen Situationen und auch gleichzeitig nicht an die Zukunft zu denken, mit ihren womöglich weiteren schwierigen Situationen in der Zukunft. Ich lebe mittlerweile in herausfordernden Lebenssituationen bewusst und ausschließlich im Hier und Jetzt und empfinde das Hier und Jetzt als einen Trostspender während der trüben Tage des Lebens und als großen Halt in Krisensituationen. Das war jedoch nicht immer so, ich habe viel Übung gebraucht (mittlerweile 14 Jahre) um diesen Tanz des Lebens tanzen zu können.

Ein Gespräch der anderen Art

Ich war letzte Woche mit dem Kleinen am SPZ (Sozialpädiatrisches Zentrum), denn er soll einen integrativen Kindergartenplatz bekommen. Die Ärztin bei der Untersuchung hat so viele Fragen gestellt und dabei fast keine Zeit für meine Antworten gehabt, dass ich mich gefragt habe, was dieses Gespräch dann für einen Sinn hat. Ich verstehe das natürlich, dass wenig Zeit vorhanden ist und ich habe es der Ärztin auch nicht persönlich übelgenommen, denn sie arbeitet ja auch innerhalb des ihr vorgegebenen Systems. Dennoch frage ich mich, ob das wirklich Sinn macht, wenn wir Fragen stellen und gar nicht die ganze, umfassende Antwort hören wollen (können). Aus was für Gründen auch immer (Vorgaben im System, Zeitmangel, Werte usw.) wir keine Zeit haben zuzuhören, keine Zeit haben, uns Zeit zu lassen, ist das nicht förderlich für das Miteinander und auch nicht förderlich beim Lösen von Problemen. Was mich besonders geärgert hat an der Situation, war, dass ich mich aufgrund des Zeitmangels gefühlt habe, als ob mich die Ärtzin in ein Schublade steckt, in die ich meiner Meinung nach nicht gehöre. Ich wurde nicht gefragt, was genau für Unterstützung ich benötige, sondern mir wurde mitgeteilt was man für eine Unterstützung für mich für notwendig hält und das empfinde ich als Übergriffig und eindimensional, zumal es ja um meinen Kleinen ging und darum, dass er einen integrativen Kindergartenplatz bekommen soll. Die Ärztin hat in dem Gespräch von 60 Minuten nur bewertet, was SIE in dieser kurzen Zeitspanne als, aus ihrer Sicht bei mir, verbesserungswürdig einschätzen würde. Ich halte das tatsächlich für ungut und mir hat dieses Gespräch viel Unbehagen bereitet, weil es auch  an der Fragestellung vorbei ging. Diese ganze (Fremd)Einschätzung  musste ich danach dann erst einmal wieder abstreifen um im Hier und Jetzt wieder zu mir zu finden und eine innere Haltung einzunehmen zu dem Gesagten beim Termin.

Fehler im System

Ich weiß, dass ich eine andere Mutter wäre, wenn ich mehr Hilfe hätte, wenn ich Zeit hätte, mich auszuruhen und ich nicht mehr so viele finanzielle Sorgen hätte. Hätte, Hätte…….. Ein Auto benötigt Benzin, damit es fährt und das Handy funktioniert nur mit aufgeladenem Akku. Das weiß jedes Kind. Das ich aber als Mutter auch einmal meinen Akku aufladen muss, ist nicht vorgesehen, medizinisch, gesellschaftlich, politisch, wie auch immer. Jedenfalls hat der Akku der Mutter Pech, wenn er leer ist. Er wird dann zum achten Weltwunder, dass es nicht gibt. Das was sich hier negativ auswirkt auf mein Leben als Mutter sehe ich nicht als mein individuelles Verschulden an, sondern als Fehler im System, nämlich das Sorgerecht keine Sorgepflicht enthält, dass für Alleinerziehende keine niedrigschwelligen Hilfen vorgesehen sind, dass Kindererziehung Privatsache und keine Arbeit ist und das wenig getan wird gegen die Diskriminierung von Müttern am Arbeitsmarkt. Die Probleme werden nicht (auch) im System gesucht, sondern nur und ausschließlich beim Einzelnen, in diesem Fall bei mir, der Mutter und das geht nicht. Das ist ungesund und durch diese Individualisierung der Probleme wird man keinem Menschen gerecht. Auch mir und meinen Kindern nicht.

Für einen Moment frei sein

Wieder ins Hier und Jetzt zu finden nach solch anstrengenden Gesprächen, das gelingt mir am schnellsten in der Natur beim Fotografieren. Meine Aufmerksamkeit gehört dann nicht mehr den unbehaglichen Gedanken, dem ganzen Gesagten, sondern dem, was ich sehe, höre, fühle und rieche in der Natur im Hier und Jetzt und das lässt mich Abstand gewinnen zu der belastenden Situation. Es zählt dann nicht was war und auch nicht, was sein wird. Es zählt nur das Jetzt, Hier und Heute. Der Moment. Dann fühle ich mich frei. Frei von Wertung, frei von Last, frei von Sorgen. Ich bin für einen Moment frei. Gedanken fliegen, Leichtigkeit hält Einzug, Kreativität und Selbstvertrauen kehren zurück. Es ist nur ein Moment, aber der ist von unendlichem Wert für mich. Natürlich löse ich damit nicht das Problem, dass ich kein Attest bekommen habe für den integrativen Kindergartenplatz und das unangenehme Gespräch mit der Ärztin wird dadurch auch nicht besser. Aber ich habe Abstand bekommen zu der belastenden Situation und kann andere (positivere) Gedanken denken und dadurch Kraft schöpfen um neue Wege zu gehen.

Ärzt_innen gehören auch zu den Care-Arbeitenden

Als ich im Nachhinein das Gespräch reflektiert habe mit der Ärztin (auch Ärzt_innen sind Care-Arbeitende) um mir genau anzusehen, was ich von dem Gesagten umsetzen möchte und was nicht, ist mir eine Passage eingefallen aus dem Buch „Care Revolution“ von Gabriele Winker:

„Einig ist man sich weiter, dass in der Care-Arbeit die Kommunikation einen hohen Stellenwert hat, weil interaktive Prozesse zwischen Sorgeleistenden und Sorgeempfangenden bedeutsam sind. Gerade weil Care-Arbeit kommunikationsorientiert und auf konkrete einzelne Menschen bezogen ist, ist sie auch sehr zeitintensiv. Sie kann damit nicht beliebig verkürzt oder standardisiert werden, ohne die Qualität zu verlieren. Dies hat die Auswirkung, dass in diesem Bereich Produktivitätssteigerungen, die nicht gleichzeitig die Qualität der Care-Arbeit verschlechtern, nur begrenzt möglich sind (Himmelweit 2007, Madörin 2011).“

Qualitätsverlust durch Zeitmangel

Das Gespräch zwischen der Ärztin und mir hat an Qualität ganz sicher verloren durch den Zeitmangel und das darf wirklich nicht sein, wenn es darum geht, sich einen Überblick zu verschaffen über eine Situation. Finde ich. Jedoch liegt hier kein individuelles Verschulden der Ärztin vor, sondern der Fehler liegt im System.

Neue Perspektiven einnehmen

Das Beitragsbild ist entstanden, nach dem Gespräch mit der Ärztin am SPZ, die (aus Zeitmangel) nicht gefragt hat, was ich schon geschafft habe oder was ich jeden Tag leiste als alleinerziehende, berufstätige Mutter. Die (aus Zeitmangel) nur gesehen hat, was ihrer Meinung nach fehlend ist ohne meine Sichtweise mit einzubeziehen. Jedenfalls ging es mir nach dem Spaziergang in der Natur und den Fotos wieder besser, weil ich meine Aufmerksamkeit auf das Hier und Jetzt gerichtet habe und natürlich auf etwas, was mir Freude bereitet, die Natur und das Fotografieren. Die Beklemmung, hervorgerufen durch den eindimensionalen Blick der Ärztin im Gespräch, konnte ich nun wieder in Bezug setzen zu meinen ganzen Leben, dass nicht nur aus verbesserungswürdigen Anteilen besteht, sondern vor allem ein Leben ist, in dem manchmal unmenschlich viel bewältigt werden musste. Ich bin mehr und etwas ganz anderes als der Ausschnitt aus 60 Minuten Gesprächszeit. Ich bin 44 Jahre gelebtes Leben.

Meine Bilder entstehen immer aus einem spontanen Gedanken, durch das, was ich gerade im Hier und Jetzt wahrnehme. Die Fotos veröffentliche ich meistens unmittelbar nach der Entstehung auf Twitter (@Mamastreikt) und Instagram (Mama streikt). Ich wünsche Euch viel Spaß damit und vor allem ganz viele zentrierte, zufriedene Momente im Hier und Jetzt.

P.S.: In eigener Sache suche ich Aufträge als virtuelle Assistentin (Infos unter http://www.clairefunke.de). Das Schreiben von Texten zu verschiedenen Themen gehört auch noch zu meinem Repertoire (z. B. Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Care-Arbeit, Medizin, Arbeitsmarkt, Essen und Trinken). Extremalleinerziehend würde ich am liebsten im Homeoffice arbeiten, gerne auch festangestellt. Freiberuflich geht aber auch. Andere Arbeitsvariationen sind möglich. Schließlich bin ich flexibel. Meistens. Anfragen nehme ich gerne an unter: info@mamastreikt.de. Neben neuen Aufträgen freue ich mich auch, wenn Ihr meine Arbeit zur Anerkennung der privaten Care-Arbeit finanziell unterstützt. Hier geht es zu PayPal: https://paypal.me/ClaireFunke. Vielen Dank dafür.

 

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7 Gedanken zu “Über die Freiheit im Hier und Jetzt und das achte Weltwunder

      • Hagmann, Christian schreibt:

        Am 04.10.2018 um 11:47:37 schrieb Hagmann :
        Guten Tag Frau Funke,

        als Unterzeichner Ihrer Petition/Kampagne möchte ich Ihnen einen Vernetzungshinweis zukommen lassen, falls er Ihnen noch nicht bekannt sein sollte.

        Ich las gerade eben das Buch „Ein Cappuccino für die Armen“ von Claudia Pinl.

        Im Kapitel „Streik – Engagierte wehren sich“ auf der Seite 127 ist die Rede von einer GEFA in Berlin (Gewerkschaft für Ehrenamt und Freiwillige Arbeit)
        und in Bayern von Veto – Bündnis für mehr Menschlichkeit (Initiator ist Raffael Sonnenschein).

        Mit solidarischen Grüßen

        Christian Hagmann

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  1. Christina schreibt:

    Liebe Claire,

    vielen Dank für Deinen sehr wichtigen Text, und dass Du Dich engagierst.
    Die Gliederung mit Überschriften finde ich auch sehr gelungen.

    Meine Anregung: eine kurze Zusammenfassung würde es mir leichter machen die Inhalte zu lesen.

    VlG Chris

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