Mein fünftes Interview im Rahmen des Projekts „Care eine Stimme geben“ habe ich mit Charlotte (46, freie Texterin) geführt. Sie ist verheiratet, Mutter von 2 (Adoptiv)Kindern und bloggt über ihr Familienleben in „Charlottes Adoptionsblog“.
Rückblick
Charlotte und ihr Mann haben vor 7 Jahren die Geschwister Maxim (10) und Nadeschda (8) adoptiert und sich was die Sorgearbeit angeht für eine eher klassische Rollenaufteilung entschieden, wobei Charlotte als freie Texterin arbeitet und im Schulhort. Ganz klassisch kann man die Aufgabenteilung daher nicht nennen, denn Charlotte ist auch erwerbstätig. Zusätzlich kümmert sie sich vorwiegend um die Kinder, während ihr Ehemann überwiegend seiner Erwerbsarbeit nachgeht.
Einblick
In ihrem Blog beschreibt Charlotte das Leben mit den zwei Adoptivkindern sehr eindrücklich. Maxim und Nadeschda benötigen viel Aufmerksamkeit aufgrund ihrer traumatischen Erlebnisse, vor der Adoption, die immer wieder auf das Hier und Jetzt Auswirkungen haben. Mittlerweile gehen die Geschwister in die Schule und besuchen die zweite und die vierte Klasse. Auch hier bedürfen die beiden einer intensiven Betreuung und Förderung. Einfühlungsvermögen, Zeit und Reflexionsfähigkeit sind in diesem Familienleben besonders wichtige Begleiter.
Rollentausch – wenn Eltern pflegebedürftig werden
Im Januar 2018 hatte die Mutter von Charlotte einen Schlaganfall und lag zwei Wochen in einem 300 Kilometer entfernten Krankenhaus. Im Alltag mit zwei schulpflichtigen Kindern, war es jedoch gar nicht möglich diese weite Strecke oft fahren, um sich auch noch um die Bedürfnisse der kranken Mutter zu kümmern. Aus diesem Grund hatte die 46-Jährige organisiert, dass die, an die Krankenhausbehandlung anschließende Reha, bei ihr in Wohnortnähe durchgeführt wird. Neben der normalen Familienarbeit und der Erwerbsarbeit kümmerte sich Charlotte nun zusätzlich ca. 2-3 Stunden täglich um die Belange ihrer Mutter. Hier gab es verschiedene Dinge zu erledigen, wie z. B. Wäsche waschen, Gespräche mit Ärzten und Krankenkasse führen, Besuche bei der Mutter, Anträge stellen, Organisation der Unterbringung nach der Rehabilitation usw.. Alle Aufgaben zusammen genommen kommt da mit Erwerbsarbeit, Kindererziehung, Haushalt und Pflege der Mutter schnell ein 16 Stunden-Tag zusammen.
Ursprünglich wollte die Mutter von Charlotte nach der Rehabilitation gerne wieder in ihr altes zu Hause zurück. Da sie jedoch durch den Schlaganfall rechtsseitig gelähmt ist, war dies schlussendlich keine Option mehr. Des Weiteren hätte sich die Tochter nur sehr wenig um ihre Mutter kümmern können, da 300 Kilometer Entfernung zwischen den Wohnorten im Alltag zu weit sind, wenn man erwerbstätig ist, wie Charlotte und noch zwei schulpflichtige Kinder mit besonderen Bedürfnissen hat.
Hier und Jetzt
Nach einigen Überlegungen dahingehend, wie die Mutter von Charlotte untergebracht werden soll nach der Reha, hat sich die Familie für eine Einrichtung entschieden, die betreutes Wohnen anbietet. Die alte Dame isst hier zusammen mit den Mitbewohnern zu Mittag und lebt ansonsten in einer Wohnung mit Reinigungs-, Wäsche- und Pflegedienst. Die Zeit, die Charlotte benötigt für ihre Mutter wird sich dann von 2-3 Stunden täglich reduzieren auf 2-3 Stunden pro Woche. Dennoch wird sie weiterhin verantwortlich sein, für deren Belange, was gesellschaftlich jedoch nicht als Arbeit gewertet wird, genauso wie die Kindererziehung.
Resümee
Pflegende Angehörige sind der größte „Pflegedienst“ Deutschlands, denn rund 70 % der Pflegebedürftigen werden von ihren Angehörigen zu Hause versorgt. Allerdings ist dieser Teil der privaten Care-Arbeit noch weniger sichtbar, wie die Erziehung von Kindern. Ein Grund dafür könnte sein, dass sich in unserer Leistungsgesellschaft keiner gerne damit auseinandersetzt, wie es ist, alt, hilfsbedürftig und abhängig zu sein.
Der Gesetzgeber hat im Paragraph 1618a des Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) die „Pflicht zu Beistand und Rücksicht“ verankert. Eltern und Kinder sind einander demnach Beistand und Rücksicht schuldig. Aber wie soll das in der Praxis aussehen in unserer erwerbszentrierten Gesellschaft, wenn ein erwachsenes Kind berufstätig ist und wie in Charlottes Fall noch eigene Kinder da sind, die versorgt werden müssen? Was schon viel diskutiert wird, ohne befriedigende Lösungen im Bezug auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, steckt bei der Vereinbarkeit von Pflege und Beruf noch im Anfangsstadium.
Ein wichtiger Schritt wäre es, dass wir die private Care-Arbeit von Eltern und pflegenden Angehörigen, die überwiegend von Frauen geleistet wird, gesellschaftlich als Arbeit anerkennen. In der aktuellen Oxfam-Studie „Public Good or Private Wealth“ (Öffentliches Gut oder privater Reichtum) heißt es, dass Frauen das 38-fache des Jahresumsatz des VW-Konzerns an unbezahlter Fürsorgearbeit leisten:
„Frauen bezögen um 23 Prozent niedrigere Gehälter und trügen die Last der Mängel im Gesundheits- und Bildungsbereich. Pro Jahr leisteten sie unbezahlte Pflege- und Sorgearbeit im Wert von zehn Billionen Dollar, heißt es in dem Bericht. Das entspreche etwa dem 38-fachen Jahresumsatz des VW-Konzerns.“
Ich habe einmal nachgesehen, wie hoch der Jahresumsatz von VW im Jahr 2017 war: 230.682 Millionen Euro. Das 38-fache davon leisten Frauen an unbezahlter Sorgearbeit pro Jahr. Es dürfte klar sein, dass dies eine der größten Ungerechtigkeiten überhaupt ist, dass die private Care-Arbeit auch noch oft in Armut führt, weil sie finanziell nicht abgesichert ist.
P.S.: Wenn Ihr meine Arbeit zur Anerkennung und zum sichtbar machen der privaten Care-Arbeit finanziell unterstützt freue ich mich sehr. Hier geht es zu PayPal: https://paypal.me/ClaireFunke. Vielen Dank dafür.
Beitragsbild: Pixabay von Sabinevonerp
Liebe Claire,
danke für diese tolle Interviewreihe! Ich habe deine Online-Petition zur Wertschätzung von Care-Arbeit lustigerweise schon des längeren auf meiner Website verlinkt, aber jetzt werde ich wohl auch deinen Blog regelmäßig lesen. Danke, dass ich u.a. durch dein Interview mit Charlotte auf ihn aufmerksam geworden bin!
Lieben Gruß, Sarah (in meinem Blog unter Pseudonym „Sunnybee“)
PS. Das Thema „Care-Arbeit“ hat mich übrigens vor etwa einem Jahr zu meinem allerersten Blogartikel bewegt. Vielleicht hast du Lust, ihn dir anzusehen? https://mutter-und-sohn.blog/2018/04/05/privatsache/
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Liebe Sarah,
ganz herzlichen Dank für Deinen Kommentar und den Link. Ich habe den Beitrag gelesen und finde vor allem super, dass Du den Zusammenhang siehst zwischen Fürsorge für Kinder und zu pflegende Angehörige. Ich werde den Beitrag teilen, auch wenn er von April 2018 ist. Wir brauchen mehr Menschen, die diesen Zusammenhang sehen und benennen. Ich habe nämlich eher den Eindruck, dass Eltern und pflegende Angehörige sich als separate Gruppen sehen. Was könnten wir alles erreichen, wenn wir uns zusammentun würden? Bestimmt viel.
Herzlichst, Claire
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Liebe Claire,
das sehe ich genau wie du. Und aus eigener Erfahrung kann ich nur bestätigen: sich auszutauschen und Netzwerke zu knüpfen STÄRKT, sich voneinander abzugrenzen SCHWÄCHT und spielt denjenigen in die Hände, die an Missständen wie der momentanen Nicht-Wertschätzung der „Care-Arbeit“ nichts ändern wollen.
Danke für’s Teilen meines Artikels!🙂 Vielleicht ergibt sich ja sogar die Gelegenheit, dass wir uns noch anderweitig unterstützen? Gemeinsam mit einer Freundin organisiere ich seit gut einem halben Jahr einen monatlichen Stammtisch für Allein- und Getrennterziehende in Köln (https://www.getrenntmitkind.de/details/stammtisch-februar.html). Darüber hat sich auch bereits ein Netzwerk toller, engagierter Frauen ergeben – vielleicht bist du ja sogar irgendwann in der Gegend und hast Lust, vorbeizuschauen?
Herzlichen Gruß, Sarah („Sunnybee“)
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